Anerkennen schafft Platz - oder – Wir sind Müesli
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- Veröffentlicht am Mittwoch, 01. August 2012 11:19
1. August Rede 2012, gehalten in Suhr AG
Ich war nicht immer Schweizer. Ich wuchs mit einem anderen Pass auf. In der Schweiz wurde 1991 als Ausländer aufgenommen und 2003 als Schweizer. Ich würde heute behaupten, dass ich mich gut an die hiesigen Gebräuche, Sitten und Kultur anpassen konnte. In der Alltagssprache würde man heute sagen: ich sei gut integriert.
Aber was heisst denn das eigentlich – integriert sein? Dieser Frage gehe ich in meiner Rede nach... und auch der damit verbundenen Frage: Was ist Heimat und was die (Schweizer) Identität?
Doch zunächst möchte ich danken. Im Rahmen eines Anpassungs/ Integrations- Prozesses lernt man als junger Mann, dass man in der Schweiz nie genug danke sagen kann. Deshalb möchte ich mich auch am Anfang meiner Rede ganz herzlich bei Ihnen allen, bei der Gemeinde Suhr, bedanken:
- Bedanken, dass ich heute hier sein darf und einige Gedanken und Worte an Sie, zum 721. Geburtstag der Schweiz, richten kann, bzw. dass ich eingeladen wurde. Es ist mir eine grosse Ehre.
- Bedanken, dass mich die Gemeinde vor einigen Jahren als Suhrer- Bürger aufgenommen hatte. Dass sie mir auf diesem Weg auch die Möglichkeit geboten haben, mich aktiv in den politischen Prozess einzumischen, als Stimmender, Wählender und heute auch als Gewählter Grossrat des Kantons Aargau.
- Bedanken, dass ich mich hier zum Beispiel sehr aktiv im Rahmen verschiedener Projekte mit der Jugendarbeit Suhr - Buchs kreativ ausleben konnte. Dieses ausserschulische Angebot hat mich nachhaltig geprägt im Rahmen des Integrationsprozesses.
Oder:
- Bedanken, dass ich hier meinen eigenen Basketball- Verein „Libertas" gründen konnte.
Wie ich mich informieren konnte, geht es der Gemeinde Suhr gut. Es seien keine speziellen Probleme und Herausforderungen vorhanden, welche nicht auch andere Gemeinden in der Schweiz beschäftigen würden. Und so wie die Zeitungen schreiben, geht es der Schweiz auch nicht schlecht. Im Wettbewerbs- Wettbewerb stehen wir seit neuem nach Hong- Kong und den USA auf dem 3. Platz.
Vor kurzem hat ein Aarauer Psychiater zu mir gesagt, bezogen auf die Frage der Identität und den damit verbundenen Wurzeln die man scheinbar irgend wo schlagen muss, bevor man sagen kann, dass man das eine oder andere ist, bzw. dass man irgend wo daHEIM sein darf:
„SIE SIND GAR NICHTS. EIN SECONDO IST NICHTS RICHTIGES."
Zuerst ärgerte mich seine Aussage und ich setzte mich zur Wehr. Als ich aber darüber nachzudenken begann, wurde mir bewusst, dass ich, genau so wie ca. 500'000 weitere Secondos und Secondas die in diesem Land leben, nichts richtiges bin. Im Gegensatz zu vielen von Ihnen, die hier seit Jahrhunderten sesshaft sind und nichts anders als die Schweiz kennen. Im Gegensatz zu ihnen, die mir in zwei Sätzen sagen können was und wie sie sind. Im Gegensatz zu Ihnen bin ich nichts Richtiges!
Ich nehme an, dass wenn ich irgend jemanden aus dem Publikum bitten würden aufzustehen und uns allen in zwei Sätzen zu sagen, was einen Schweizer, eine Schweizerin ausmacht, das würde jeder und jede können. Oder nicht?
Ich – ich bin etwas: Dazwischen, ein Zugewanderter, ein Gemischter, etwas Zweites – eben nichts Richtiges, nichts Erstes. Und das sie nicht gut! Das ist gar nicht gut. Zumindest herrscht heute auch so eine Vorstellung in der Schweiz bzw. in der Deutschschweiz, dass es Richtige und weniger Richtige Schweizerinnen und Schweizer gibt:
- Es gibt die Eidgenossen (zuoberst der Richtigkeits- Skala)
- Dann gibt es quasi die normalen Schweizerinnen und Schweizer
- dann gibt es eingebürgerte Schweizerinnen und Schweizer, also SchweizerInnen mir einen Migrationshintergrund.
- dann kommen Ausländer – welche auch nicht alle gleich gut bzw. richtig sind:
- es gibt Ausländer aus der EU und den USA
- und Ausländer aus anderen Ländern
- Ausländer zum Beispiel aus dem Balkan - Besonders aus dem Kosovo.
- Oder die heute bekanntesten Ausländer, zumindest wenn man den Zeitungsberichten folgt, die Ausländer aus Afrika.
In einem der vielen Online- Kommentare, welchen im Rahmen der Berichterstattung über irgend einen meiner politischen Vorstösse bzw. Ideen erhielt, hiess es in etwa so:
- Auch wenn du den Schweizer Pass hast,
- auch wenn du als Gewählter im kantonalem Parlament sitzst
- auch wenn du hier steuern zahlst,
- dein Kind hier zur Schule schickst,
- brav und gewissenhaft deinen Abfall trennst und entsorgst,
- die Waschküche sauber hinterlässt,
- Mitglied in vielen Vereinen, die du auch selber gegründet zu haben scheinst, bist
- auch wenn du mit deiner Musik die Qualitäten der schweizerischen Volksmusik hervorhebst,
- auch auch ...
Du wirst nie ein richtiger Schweizer sein!
Ich fragte ihn, ich frage Sie hier anwesende, was muss den ein Zugewanderter machen, um ein richtiger Schweizer zu sein?
Beim Versuch der Beantwortung dieser Frage; was wir sind, was ich bin, greifen wir oft dazu und zuerst zu definieren was wir nicht sind, bzw. wie die anderen sind bzw. sein sollten. Es ist tatsächlich viel einfacher für viele Probleme die eine Gemeinschaft hat, Schuld bei anderen zu suchen. Heute wird zum Beispiel für viele Probleme Schuld bei den Ausländerinnen und Ausländern gesucht. So kann man der Komplexität vieler Herausforderungen aus dem Weg gehen, bzw. für sich persönlich eine einfache Antwort auf viele Probleme die sich einer Gesellschaft stellen, finden.
Die Frage wer oder was ich bin ist tatsächlich nicht einfach zu beantworten. Und wenn wir von den Zugewanderten erwarten, dass sie sich anpassen, sie aber von 10 Schweizerinnen, 10 verschiedenen Vorstellungen von der Schweiz bekommen, so ist und wird es schwierig bleiben, sich an etwas anzupassen.
Wir leben heute in einer individualisierten Gesellschaft in der sich niemand gerne in das eigene, private reinreden lässt. Wie ich meine Kinder zu erziehen habe, da hat mir niemand rein zu reden. Evtl. wüsste ich schon was ich einigen Ausländerinnen sagen könnte, wie sie ihre Kinder erziehen sollten. Jedoch, da ich nicht will dass mir jemand reinredet, so rede ich auch bei Ihnen nicht rein. Das ist eine tief verankerte gesellschaftliche Vorstellung von Erziehung. Und Integration ist nicht anderes als Erziehung. Es geht hier aber nicht um eine Erziehung die einem Lehrplan folgt, sondern um eine Erziehung die aus der Aushandlung entsteht. Aus einer Aushandlung an der alle Partnerinnen und Partnern gleichwertig sind.
Solange wir uns nicht auf einander einlassen und/um uns auch ein wenig, im Sinne einer aktiven Entwicklung, reinreden zu lassen, solange können wir nicht von Integration reden. Dann empören wir uns lieber über einander und lassen andere stellvertretend diese Arbeit für uns verrichten: Lehrpersonen, Polizei, die Politik. Alle anderen sind dann schuld, dass es nicht funktioniert, nur ich nicht.
Aber genau dort liegt der Schlüssel bzw. die Idee des Erfolgs. Der Schlüssel der die Schweiz heute zu dem gemacht hat was sie ist:
Die Idee des Miteinander.
Verschiedene: Sprachen, Kulturen, Konfessionen, Religionen haben es in der Schweiz geschafft ein Miteinander zu finden. Dieses hat sich in den letzten Jahrhunderten bewährt und hat die Schweiz erfolgreich und stabil gemacht. Zu diesem Miteinander müssen wir immer einen Zugang suchen. Gemeinsam und auch mit allen die Zugewandert sind. Aktuell 22% oder 1,8 Mio. Menschen (Doppelbürger und Secondos nicht dazu gerechnet.
Die Migration ist eine Realität. Die Schweiz ein Einwanderungsland. Es ist nicht mehr die Frage ob wir das wollen oder nicht. Ohne die Zuwanderung wäre die Schweiz am aussterben. Ohne die Ausländer könnten wir keine Spitäler betreiben, keine Innovation leisten, keine Häuser bauen, keinen hohen Lebensstandard (den wir eindeutig haben) – ob wir das richtig finden oder nicht - halten.
Die Schweiz ist auch ein demokratisches Land. Doch der „Ausschluss von 1,8 Mio Menschen aus dem politischen Prozess stellt die Legitimität einer Demokratie in Frage." Das sagte kürzlich in einem Interview (Link) Gianni D'Amato, Leiter des Schweizerischen Forums für Migrations- und Bevölkerungsstudien und Professor an der Universität Neuenburg. „Eine Demokratie, die jene von der politischen Mitsprache ausschliesse, die seit Jahrzehnten am wirtschaftlichen Fortschritt der Schweiz mitarbeiteten, sei weniger demokratisch als ein Staat, der dieses Recht gewährt."
Man kann natürlich sehr wohl leben, ohne mitzureden zu müssen. Den meisten ist es wohl viel wichtiger, einen Job zu haben um die Familie unterhalten zu können, als sich mit lokalen und regionalen Fragen zu beschäftigen.
Aber mitbestimmen, mitreden können, heisst auch anerkennen, dass man existiert, dass man die Stimme erheben kann, sich für die eine oder andere Richtung positionieren kann. In einer Demokratie ist man nur vollständig anerkannt, wenn man über politische Rechte verfügt.
Stellen Sie sich mal das MÜESLI vor. In einem Müesli gibt es verschiedenen Zutaten. Und erst eine gute Mischung der Zutaten ergibt ein gutes, gesundes, nahrhaftes Müesli. Wenn man bei Wikipedia Müesli eingibt dann kommt unter anderem Folgendes:
„Müesli ist neben Schweizer Schokolade und Fondue eine der Schweizer Spezialitäten, die weltweit gegessen werden. Heute ist Müsli wesentlicher Bestandteil der europäischen Frühstückskultur.
Das ursprüngliche Birchermues ist eine Schweizer Spezialität und wurde um 1900 vom Aargauer Arzt und Ernährungsreformer Maximilian Oskar Bircher-Benner entwickelt. Der Gründer des Sanatoriums „Lebendige Kraft" am Zürichberg nannte seine Kreation Apfeldiätspeise, oder einfach d Spys. Ab 1902 versuchte er den Gästen in seinem Zürcher Sanatorium auf diese Weise eine Vollwertdiät mit frischem Obst näherzubringen – was ihm gelungen ist.
Bircher-Benner hatte das Mus jedoch nicht eigenständig entwickelt, sondern dieses „recht seltsame Essen" auf einer Bergwanderung in den Alpen entdeckt, als ihn eine Sennerin mit einer Rohkostmahlzeit bewirtet hatte, wie sie die Alphirten schon seit mehr als hundert Jahren zuvor zu sich genommen hatten: bestehend aus Haferflocken, Äpfeln, Nüssen, Zitronensaft (aus dem Tessin) und gezuckerter Kondensmilch."
Bei meinem ersten Bergschullager im Jahre 1991 wurde mir zum Morgenessen dieses „RECHT SELTSAME ESSEN" in einer Form vorgelegt, welches ich nicht, bzw. nur mit Mühe und Not einnehmen konnte, damals. (Heute bin ich ein grosser Fan von Müesli)
Die Form war damals fix vorgegeben und somit auch die Zutaten. Das war zumindest meine Erfahrung damals mit dieser Bircher- Muesli- Mischung.
Heute kann man auf mymuesli.ch (bin nicht beteiligt an dieser Firma :) sein eigenes Müesli zusammenstellen. Nach individuellen Vorlieben und Wünschen. Es gibt die klassischen „Bircher- Zutaten". Man kann es aber auch beliebig mit vielen Exotischem mischen: Datteln, Bananen, und weiteren Zutaten welche nicht in der Schweiz gedeihen. Trotzdem wird es ein Schweizerisches Produkt, eine Schweizerische Spezialität bleiben.
Wir müssen uns heute unsere individuellen, je nach: Gemeinde, Region oder Kanton, Gesellschafts- Müesslis gemeinsam zusammen setzten. Und dies indem wir alle daran beteiligen lassen: mit oder ohne Schweizer Pass, Jung oder Alt, Mann oder Frau.
Wir brauchen spezifische: z.B. Frohdöfli und Buhalde- Müesli (Quartiere in der Gemeinde Suhr), Suhrer- Müesli, Aargauer Müesli, Nordwestschweiz- Müesli, Mittelland- Müesli...
Lassen wir an der Gestaltung, dieser, unserer Müeslis, alle teilnehmen. Früchte die nicht in der Schweiz gedeihen, haben längstens Platz in unserem Schweizer- Müesli gefunden. Auch Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen haben längstens Platz in unseren: Firmen, Vereinen, Häusern und Wohnungen genommen. Ich weiss, dass es Zeit braucht bis sie auch in unserem Köpfen und oder gar Herzen Platz gefunden haben. Dies geht aber nur wenn wir die Idee des Miteinanders auch miteinander üben. Mitbestimmen, mitreden können, heisst anerkennen, dass man existiert. Anerkennen schafft Platz, in Köpfen und in – Herzen.